Was zeichnet zeitgemäße Ergonomie aus? | VS

Letzte Suchanfragen

Was zeichnet zeitgemäße Ergonomie aus? | VS

Der Mensch ist auf regelmäßige Bewegung angewiesen – auch im Sitzen“

Der Bewegungswissenschaftler Dr. Dieter Breithecker berät VS seit vielen Jahren in Sachen Ergonomie.

VS: Herr Dr. Breithecker, wenn man heute von Ergonomie spricht, ist oft von zeitgemäßer Ergonomie die Rede. Was ist damit gemeint?

Das Thema Ergonomie ist sehr komplex. Es beschäftigt sich grundsätzlich mit den Arbeitsplatzverhältnissen und mit den Lernverhältnissen. Dabei spielen auch Licht, Akustik, Luft, Raumklima, Farbe, Bewegung etc. eine Rolle. Rein bezogen auf das Mobiliar wie etwa Sitzmöbel sind die „alten“ ergonomischen Kriterien sehr stark orthopädisch-biomechanisch geprägt: Wie sollten Stühle und Tische in Relation zu meinen Körperproportionen eingestellt werden, damit ich eine gute, aufrechte Sitz- oder Stehhaltung einnehmen kann? 

Ist die alte Ergonomie denn obsolet?

Als Basis gelten diese Kriterien weiterhin. Aber der Mensch ist aufgrund seiner entwicklungsbiologischen Vorgaben auf regelmäßige Bewegung angewiesen. Bewegung – dazu zählen auch regelmäßige Haltungsveränderungen – ist grundsätzlich wichtig für unsere körperliche-geistige Gesundheit und für unser Wohlbefinden im Allgemeinen. Deshalb entfaltet sich beim Menschen Bewegung immer spontan und intuitiv, sobald unser Körper erkennt: statische Überbelastung! Aus diesem Grund ist die oft als vorbildlich bezeichnete „ergonomisch richtige Sitzhaltung“ nicht physiologisch, da sie zu statisch ist.  

Wie steht es um die aktuelle ergonomische Situation in unseren Schulen und Büros? 

In den letzten 20 Jahren hat sich manches verbessert, aber man muss auch klipp und klar sagen: In etwa zwei Dritteln der Situationen ist es immer noch so, dass der Mensch auf starren Stühlen sitzt, und hier meine ich insbesondere die Sitzflächenfunktionen. Grundsätzlich aber verbringt er zu viel Zeit im Sitzen. Studien zeigen: Zehn, elf Stunden am Tag verbringt der Mensch im Sitzen – auch Schülerinnen und Schüler. 

Dr. Dieter Breithecker von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung e.V. in Wiesbaden

„Wir brauchen in Lernräumen Verhältnisse, durch die sich Bewegung auf vielfältige Weise entfalten kann.“

Dr. Dieter Breithecker, Sport- und Bewegungswissenschaftler

Wie viel sollten wir maximal sitzen?

Als Erwachsener maximal sechs Stunden am Tag und nicht länger als 20 Minuten am Stück. Ein Kind bis zum Alter von zehn, elf Jahren kann und sollte keine Minute stillsitzen. Bei ihm vollziehen sich wichtige biologische Reifungsprozesse, für die regelmäßige Bewegung Voraussetzung ist. Deswegen brauchen wir in Lernräumen Verhältnisse, durch die sich Bewegung auf vielfältige Wiese entfalten kann. Dazu gehören beispielsweise Stühle, auf denen Kinder „sicher“ kippeln können, das heißt mehrdimensional bewegliche Sitzflächen, die dem Bewegungsbedürfnis nachgeben, statt es zu blockieren. 

Aber sitzen tun die Kinder dann doch trotzdem. 

Ja, aber sie sitzen muskulär aktiv. Natürlich wäre es noch sinnvoller, vieles im Gehen, Stehen oder auf dem Boden kauernd zu tun. Aber das ist in der Gänze etwas alltagsfern. Viele Tätigkeiten machen einen Stuhl erforderlich. Umso wichtiger ist deshalb, auch im Sitzen Bewegung zu ermöglichen. Man bezeichnet das als aktiv-dynamisches Sitzen auf speziell dafür definierten Sitzkonzepten. Trotzdem sollten Kinder – und auch Erwachsene – nach einer halben Stunde andere Körperhaltungen einnehmen. Und wir sollten Lernen und Arbeiten so organisieren, dass Bewegung im Raum ermöglicht wird. 

Kinder sind relativ leicht zu Bewegungen zu verführen. Bei Erwachsenen ist das oft schwieriger.  Wie kann ich ihre Arbeitsumgebung bewegungsfördernder gestalten?

Der Mensch muss den Benefit spüren, den ein Haltungswechsel für ihn mitbringt. Und er muss möglichst viele Gelegenheiten für Haltungswechsel angeboten bekommen. Verhältnisse schaffen Verhaltensweisen. Das beste Beispiel sind Meetings. Finden die ausschließlich an Stehtischen statt, werden sie nachweislich kürzer und effizienter. Die Gesprächsteilnehmer sind alerter. Und sie merken nachher, dass ihnen das Stehen gutgetan hat. Wir müssen übrigens schon früh anfangen, die Verhältnisse so zu gestalten, dass Kindern die Bewegungsfreude erhalten bleibt und sich ein bewegungsträges Verhalten gar nicht erst etablieren kann. 

Junge in Bewegung neben Zelt und Polstermatten aus der Reihe FloorFriends von VS

Brauchen wir vor allem mehr Bewegungspausen statt Sportunterricht?

Das würde ich so nicht unterschreiben. Sportunterricht hat andere Ziele. Bewegung, die auf der Grundlage individueller Bedarfe regelmäßig auf den Alltag verteilt stattfinden muss, ist die erforderliche Grundlage gesunder stoffwechselphysiologischer Funktionen. Sie stellt ist also die Basis einer sich vorstellenden Bewegungspyramide dar. Sport hilft, uns auf einen gewissen Fitnesslevel zu bringen und steht an der Spitze dieser Pyramide.

Verändern sich durch den Einsatz digitaler Medien die Anforderungen an die ergonomische Gestaltung von Lernräumen?

Digitale Medien bedeuten eine starke sensorische Herausforderung und eine gewisse Reizüberflutung. Beim Lernen und Arbeiten mit digitalen Medien sollten wir deshalb gezielt auch Muskel-, Bewegungs- und Gleichgewichtssensoren aktivieren, sonst steuern wir in ein sensorisches Ungleichgewicht. Das wiederum hat negative Effekte auf unsere körperliche und geistige Gesundheit. Je höher der Anteil an Digitalunterricht, umso mehr müssen wir den Körper aktivieren. 

Was empfehlen Sie?

Ich kann das digitale Medium im Stehen nutzen oder auf Bewegungsstühlen. Wird auf einem großen Display präsentiert, kann die Gruppe um diesen Bildschirm herumstehen, statt zu sitzen. Generell hilfreich sind Bewegungsstühle, -hocker und Stehpulte. Und außerdem ein entsprechend ausgestatteter Boden, auf dem man immer wieder andere Positionen einnehmen kann. 

Das könnte Sie auch interessieren

 
Zwei Jungs sitzen auf unterschiedlich großen VS-Stühlen Stakki

Ergonomie in der Schule

Noch nie zuvor in der Geschichte haben die Menschen so viele Stunden am Tag gesessen wie heute. Kinder und Jugendliche sitzen im Klassenzimmer, im Schulbus, bei den Hausaufgaben. Nicht zu vergessen die Sitzzeit zuhause beim Essen, vor dem Computer, im Wartezimmer. Das hat Folgen für die Gesundheit. 

 
Ein offen gestalteter Lernraum mit ergonomischen Drehstühlen JUMPER vor einem interaktiven Whiteboard, neben Stehtischen TeamTable und Hockern Solo von VS

Ergonomie am Arbeitsplatz

Räume, ganz gleich wo, fordern uns mit einer Vielzahl an Sinneseindrücken. Sie können uns positiv stimulieren, aber auch hemmen und sogar krank machen. Das Gute: Wir haben es in der Hand, Räume zu gestalten. 

 
Ein hellblauer Hokki auf einen Tisch aufgehängt, daneben ein roter Hokki auf dem Boden

Bewegt sitzen

Sitzen auf dem Wackelhocker Hokki entlastet den Bewegungsapparat, hält die Aufmerksamkeit wach – und macht einfach gute Laune. Für kleine wie große Leute. 

Das könnte auch andere interessieren?

Einfach Seite teilen.